Neujahrskonvent 2024 | Festrede Kreispfarrer Christian Scheuer
Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Carsten,
sehr geehrte Mitglieder des Stadtrats,
sehr geehrte Mitarbeitende der Verwaltung,
sehr geehrte Vertreter und Vertreterinnen des öffentlichen Lebens,
liebe Bürgerinnen und Bürger!
I Über große Gefühle sprechen
Möchten Sie über Ihre Gefühle mit mir sprechen? Als Seelsorger spreche ich oft unter vier Augen mit Menschen über ihre tiefsten Empfindungen. Verschwiegenheit ist in einer Gesellschaft, die sich kommunikativ in der Dauerschleife befindet, ein hohes Gut. Aber manchmal kommen wir im vertraulichen Gespräch auch zu der Überzeugung, dass etwas an die Öffentlichkeit muss, wenn sich etwas ändern soll. Ein alter Seefahrer aus Cäciliengroden hat mir mal geraten: „Pastor, dor mutt Luft an!" Ja, manchmal muss nicht nur der Junge an die frische Luft, wie das Biopic von Hape Kerkelings Leben heißt, sondern auch eine Gefühlslage. Wenn sich was zu lang aufstaut, dann kracht es irgendwann.
„Dor mutt Luft an", sagte ich mir also in Vorbereitung dieses Redebeitrags und entschloss mich, den Spieß umzudrehen und mit Ihnen über meine Gefühle zu sprechen. Denn ich habe tiefe, ich traue mich zu sagen, große und ehrliche Gefühle für meine Heimatstadt, die mich in Kindheit und Jugend geprägt hat und wesentlich dazu beitrug, dass ich heute der bin und sein darf, der ich bin. Klingt pathetisch, aber so ist das manchmal mit den Gefühlen. Ich habe hier gelernt, dass nicht alles glänzen und strahlen muss und doch wunderschön sein kann. Dass hinter rauhen Fassaden und kaltem Wind ganz viel Herz und Wärme stecken kann. Dass Totgesagte länger leben. So gesehen sind für mich als Theologen Wilhelmshaven und das christliche Ostererlebnis gar nicht so weit voneinander entfernt.
Und weil ich diese warmen Gefühle immer noch für meine Geburtsstadt habe, tut es mir umso mehr weh, wenn es nicht so gut läuft mit meiner Stadt. Was heißt mit meiner Stadt. Irgendwie ist mehr ins Stocken geraten. Ganz Deutschland hat mit einem Reformstau und wenig planvoll vorgetragenen Veränderungen zu kämpfen. Die unfriedliche, von Krisen und Katastrophen geschüttelte Welt tut ihr übriges.
Das alles bringt auch große Gefühle mit sich. Die sind aber düster, von Unsicherheit und Sorge, manchmal Angst bestimmt. Und von Verzweiflung, Wut und Ärger. Wie schön wäre es, das Ruder einfach herumwerfen zu können und für Klima, Krieg und Not wären gute Lösungen gefunden. Despoten wären verschwunden, die Demokratie von allen anerkannt, Ausbeutung und Rassismus überwunden.
Doch so einfach ist es nicht. Es ist viel komplizierter und komplexer mit den Gefühlen. Da reicht dann schon ein grauer, schmuddeliger Tag, eine immer noch fehlende Brücke, die Kitagruppe wegen Krankheit dicht, der Bankterminal zum x-ten Mal außer Betrieb oder Schienenersatzverkehr. Das ist dann der berühmte Tropfen zum Überlaufen in einer Zeitenwende-Zeit, in der ein brisantes Gemisch von Sorgen und Problemen zu einer bedrückenden multiplen Krisenerscheinung geworden ist. Wohlmöglich zuletzt vielen Bauern so ergangen, wenn eins zum anderen kommt, anders kann ich mir den Massenauflauf auf unseren Straßen nicht erklären.
Ich bin auch anfällig dafür, in solch einen Frust und Ärger einzustimmen und dann Wilhelmshaven, Deutschland oder wahlweise die Welt für am Ende zu erklären. Und fix Schuldige zu suchen. Die Benennung von Schuldigen entlastet ja schließlich. Insofern ist der ausgesteckte Zeigefinger zutiefst menschlich. Spitzenplätze in der Rangfolge der Sündenböcke nehmen regelmäßig Politiker, der Staat oder allgemein „die da oben" ein. Ersatzweise alle, die Verantwortung übernehmen, in öffentlichen Ämtern sind oder durch Dienst bei Polizei, Feuerwehr oder Hilfskräften zum sogenannten System gerechnet werden können. Wenn's soweit kommt – und soweit kommt es leider Gottes im Moment wieder gehäuft und, so mein Eindruck, noch ungehemmter als zuvor – dann müssen wir zu Beginn eines neuen Jahres dringend darüber reden, damit uns das Neue nicht in der Verlängerung des Alten als selbstverstärkende Schleife weiter runterzieht. Dann müssen unsere Gefühle an die frische Luft, damit sich etwas ändert. Denn Gefühle erzeugen Haltungen und Haltungen bestimmen unser Denken und Handeln.
Also: Einmal runterkühlen, innehalten, beiseitetreten, statt weiter zu schimpfen und alles stumpf schlecht und runter zu reden.
II Einer wie Paulus hat das versucht. Der Apostel zog vor fast 2000 Jahren durch den Mittelmeerraum, gründete christliche Gemeinden und schrieb ihnen Briefe. Er musste lernen, dass die vielen Konflikte, die es unter Menschen gibt, auch dort auftreten, wo Menschen in bester Absicht zusammenkommen, um im Frieden Gottes miteinander zu beten und zu teilen. Und so arbeitet er in seinem 1. Korintherbrief Kapitel für Kapitel ab, woran es im Leben der jungen Gemeinde hapert: Es geht um das Essen von Fleisch, es geht um Untreue in Paarbeziehungen, es geht um Geschlechterfragen im Gottesdienst, es geht natürlich um Geld und am Ende darum, wer das Sagen hat, also um die Macht.
Eine Agenda, die uns bekannt vorkommen dürfte. Zum Abschluss schreibt er Worte in seinen Abschiedsgruß, denen wir die Jahreslosung für das neue Jahr 2024 zu verdanken haben. Sie sehen sie eingeblendet: „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe." (1. Kor. 16,14) Jetzt denken Sie bestimmt: Typisch, nun wird wieder über alle Probleme der Deckmantel der Liebe gebreitet. Weder Paulus hat allen Ernstes gemeint, er könnte mit einer Portion Liebe das ganze Bündel der Konflikte einer streitbaren Gemeinde in Wohlgefallen auflösen. Noch ich bin so naiv zu meinen, dass wir den gesellschaftlichen Unfrieden mit „Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb" aus der Welt bekommen.
Aber an die revolutionäre Kraft der Liebe glaube ich schon. Liebe ist ein großes Gefühl, doch so wie Paulus sie beschreibt, ist sie zuallererst ein Tu-Wort. Liebe, das sind Worte und Taten. Denn ob wir liebevoll miteinander umgehen, zeigt sich an unseren Worten und Taten. Das kann Fairness bedeuten oder Respekt oder Augenhöhe. In jedem Fall ist es eine Haltung, die dem anderen sein Anderssein zubilligt, die in der Freiheit des anderen die Grenzen der eigenen Freiheit erkennt, die auf Konsens und Verbindung setzt, statt auf Zerwürfnis und Spaltung. In schwierigen Zeiten ist das zugegebenermaßen ein hoher Anspruch. Aber das bedeutet ja nicht, dass man damit nicht anfangen sollte.
III Als Kirche versuchen wir das. Dazu gehört zuerst, ehrlich mit uns selbst zu sein, ohne den liebevollen Blick auf uns selbst zu verlieren. Wir sind nämlich eine kleiner werdende Kirche. Mühevoll haben wir uns in den letzten Jahren von der Illusion des ewigen Wachstums verabschiedet, die uns allen mehr oder weniger in der DNA sitzt.
Zu Beginn des Jahres starte ich im Ev.-luth. Kirchenkreis FRI-WHV mit 23 Kirchengemeinden und 71.500 Gemeindegliedern. Neun der Kirchengemeinden gehören zum Stadtgebiet Wilhelmshavens mit 26.500 Gemeindegliedern. Im letzten Jahr haben wir hier in der Stadt über 3% unserer Gemeindeglieder verloren, 400 davon durch Austritt.
Was trotzdem Mut macht, das sagt eine aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung: Mehr als drei Viertel aller evangelischen Kirchenmitglieder finden, dass die Reformen ihrer Kirche in die richtige Richtung gehen. Spielt etwa die Familie bei der Entwicklung von Religiosität eine kleiner werdende Rolle, geben Religionsunterricht, Konfirmandenzeit und kirchliche Kinder- und Jugendarbeit positive Impulse. Kirche als gesellschaftlicher Player wird von einer großen Mehrheit befürwortet, sie soll insbesondere für Menschen in Lebenskrisen da sein und mit ihren Diskussionsbeiträgen die Zivilgesellschaft weiterbringen. Die Erwartung ist, dass Kirche mit ihrer sozialen Arbeit und mit dem überdurchschnittlich starken ehrenamtlichen Engagement ihrer Mitglieder unser Zusammenleben besser macht. Soweit die Studie.
Ich finde, damit sind wir hier im Kirchenkreis auf einem guten Weg. Wir haben erkannt, dass ein kleiner werdender Kuchen – und das heißt weniger finanzielle Mittel, weniger hauptamtliches Personal, allgemein weniger Ressourcen – nicht länger bedeuten kann, dass sich jeder ein beliebig großes Stück herausschneiden kann. Wir kommen nur gemeinsam weiter, durch Bündelung unserer Kräfte. Wir üben uns im Teilen: Mehr Zusammenarbeit, weniger Bürokratie, faire Auseinandersetzung um den besten Weg, Veränderungen wagen und umsetzen, statt ängstliches Festhalten am Status quo. Immer mehr von dem, was wir tun, möge dabei in Liebe geschehen. Ein paar Beispiele:
- Am 1. Januar hat sich hier in der Stadt eine neue Gemeinde gegründet: die Havenkirche. Sie geht hervor aus der Kirchengemeinde Heppens mit ihrer Wurtenkirche aus dem 15. Jahrhundert, der Christus- und Garnisonkirche, mit deren Grundsteinlegung 1869 unsere Stadt vor 155 Jahren ihren Anfang nahm, und der Lutherkirche, 1964 im Brommygrün gebaut. Ein beispielhafter Beteiligungsprozess.
- Am 10. März ist Gemeindekirchenratswahl. In Wilhelmshaven bewerben sich 90 Männer und Frauen, darunter 9 junge Menschen bis 27 Jahre, für das wichtige Ehrenamt als Kirchenälteste, um gemeinsam mit ihren Pastoren die neun Kirchengemeinden in den nächsten sechs Jahren zu leiten. Entgegen unseren Befürchtungen hat der Umbruch in unserer Kirche die Lust zur Mitwirkung an der Gestaltung von Kirche nicht gehemmt, im Gegenteil. Erstmals wird neben der Urnenwahl eine generelle Möglichkeit zur Briefwahl eingerichtet und auch eine Online-Wahl-Möglichkeit bestehen. Bitte unterstützen Sie das ehrenamtliche Engagement in unserer Kirche. Geben Sie ihre Stimme ab!
- Seit einem Jahr besteht unser neuer Trägerverbund Wachsen & Werden. In ihm haben sich 15 Ev. Kitas, davon zehn in Wilhelmshaven, zu einer Einheit zusammengeschlossen. Wir wenden in diesem Jahr rund 20 Millionen Euro auf, um Kinder, Jugendliche und ihre Familien zu bilden und zu begleiten. Wir sind mit 400 Mitarbeitenden für fast 1200 Kita- und Krippenkinder da und stellen mit Herrn Hendrik Rösing unseren kommunalen Partnern einen professionellen, hauptamtlichen Geschäftsführer zur Seite. Erstmals seit Jahrzehnten wollen wir in diesem Jahr wieder neu bauen und die Kita Neuende im Wiesenhof um zwei Krippengruppen und eine weitere Kita-Gruppe auf 155 Plätze erweitern. Die Finanzierungsgespräche mit der Stadt sind weit vorangekommen.
- Zu Wachsen & Werden gehört auch ein weiteres Flaggschiff unseres Kirchenkreises, das für viele Wilhelmshavener und Wilhelmshavenerinnen nicht wegzudenken ist: Unsere Ev. Familien-Bildungsstätte. Seit einem Jahr unter der neuen Leitung von Frau Claudia Lehnort ist die Fabi der Ausgangspunkt für die Schutzkonzepte zur Prävention sexualisierter Gewalt, die nach den Kitas nun auch alle Gemeinden und Einrichtungen erstellen. Wir danken dem Rat – hier besonders in Gestalt des Jugendhilfeausschusses - und der Verwaltung, dass sie mit uns beharrlich nach Lösungswegen für sogenannte freiwillige Aufgaben bei knappen Finanzen suchen. Wir müssen aber für die Zukunft wieder mehr Planungssicherheit einfordern, wenn wir verlässlich mit den anderen Partnern der freien Wohlfahrtspflege weiterhin unverzichtbare Dienste für die Jugendhilfe und den sozialen Frieden in unserer Stadt erbringen sollen. Und das sollten wir. Der Umstand, dass praktisch jedes vierte Kind in unserer Stadt unter der Armutsgrenze lebt, muss uns umtreiben. Baustellen bleiben, ich nenne eine auskömmliche Finanzierung der vier Familienzentren und die Schulbetreuung, insbesondere an der GS Rheinstraße.
- Im Diakonischen Werk in der Weserstraße liegt der Fokus für 2024 weiterhin auf der Begleitung Geflüchteter, sei es in der Migrationsberatung oder in unserem Flüchtlingswohnheim in der Marienstraße, das in Nachbarschaft der neuen Sammelunterkunft im ehemaligen St. Willehad Hospital noch an Bedeutung gewinnen wird. Hier hat Matthias Böcker nach Ruhestand am 1.1.24 die Geschäftsführung übernommen. Zusätzlich legen wir zur Zeit ein neues Projekt zur Vernetzung der präventiven Angebote für Jugendliche mit Migrationshintergrund mit den weiteren Akteuren des Fachbereichs, wie Jugendzentren, Migationsbüro etc. auf. Nicht zu vergessen die Initiative „WHV verbindet" unter Federführung der Havenkirche, die ehrenamtlich die Geflüchtetenunterkunft in der Ebertstraße unterstützt. Vernetzung auch hier als Teil des roten Fadens, der uns weiterbringt. Setzen wir uns gemeinsam dafür ein, dass nicht alle unsere Probleme Geflüchteten in die Schuhe geschoben werden, d.h. migrantisiert werden!
- Mehr Miteinander ist auch unser Motto in der Ökumene. Die christlichen Kirchen in der Stadt sind gut miteinander unterwegs und erleben die Vielfalt der Konfessionen als Bereicherung, nicht als Konkurrenz. So haben wir mit der katholischen Kirche eine Finanzierung gefunden, um die Eigenständigkeit unserer Telefonseelsorgestation in Wilhelmshaven sicherzustellen und sind froh, ebenfalls nach Ruhestand zum 1. Februar eine neue Leiterin einstellen zu können. Auch für das kulturelle Leben unserer Kommune trägt die Ökumene viel aus. Beispielhaft ist die jüngste Kooperation der drei hauptamtlichen Kirchenmusiker der Stadt. Stadtkantor Markus Nitt aus Bant, Dekanatsmusiker Robert Pernpeitner aus St. Willehad und Gerrit Junge als Leiter der neuapostolischen Kirchenmusik starten am 20. Januar mit einer gemeinsamen Reihe in der Tradition der englischen Evensongs. Nicht zu vergessen sind an dieser Stelle die seit Kriegsbeginn in der Ukraine vor fast zwei Jahren stattfindenden regelmäßigen ökumenischen Friedensgebete und unser gemeinsamer kirchlicher Beitrag zur Pflege einer beachtlichen Erinnerungskultur in dieser Stadt, die uns zuletzt nach dem 7. Oktober und am 9. November im entschiedenen Eintreten gegen Rassismus und Antisemitismus mit der Bürgerschaft geeint hat.
- Vorausblickend gehen wir große Herausforderungen für den Klimaschutz an. Liebe zur Umwelt und Schöpfungsbewahrung sind maßgeblich, um hier nicht zu zögern. Das neue Klimaschutzgesetz der oldenburgischen Kirche sieht bis 2035 eine Reduktion der Treibhausgase um 90% vor. 70% davon entfallen auf kirchliche Gebäude. Davon haben wir in unserem Kirchenkreis nicht weniger als 350, fast 100 davon – von der historischen Neuender Kirche bis zum Fahrradstand – in Wilhelmshaven. Die einen werden wir klimaneutral umrüsten, von anderen werden wir uns trennen. Hier braucht es nicht nur das in Arbeit befindliche Gebäudekonzept, sondern auch viel Kommunikation und Verständigung. Liebgewordene Orte lässt man einerseits ungern los, andererseits ist die pure Gebäudeunterhaltung eine große Last, wenn z.B. ein Haus nüchtern betrachtet nicht ausgelastet ist. Aktuell sind bereits vier Pfarrhäuser in der Umnutzung, so auch die alte Pastorei in Sengwarden, in die sich die AWO mit ihrer Kita einbringt.
- Und in einem Jahr? Da soll es zum ersten Mal ein stadtweites Konfirmanden-Sommercamp in Wildflecken geben. So wird ein kirchengemeindlicher Klassiker unserer Kinder -und Jugendarbeit gemeinsam auf die Schultern gehoben zu einem Zukunftsprojekt von neun Kirchengemeinden transformiert!
IV Wir alle als Stadtgesellschaft, als einzelne Bürger innen und Bürger können es versuchen. Nicht nur der kirchliche Kuchen wird kleiner. Bund, Länder und Kommunen ringen um ihre Haushalte. Trotzdem kommt es mir so vor, dass wir alle weiterhin im Bestellmodus sind und ungehemmt unsere Forderungen absenden und auch gleich den Rücksendeschein bei Nichterfüllung beilegen. Und der lautet: Vertrauensentzug. Im Kontext unserer Jahreslosung könnte ich auch sagen: Liebesentzug. Nicht die Rahmenbedingungen sind also schwierig, nicht unsere Erwartungshaltung ist überzogen, sondern es liegt immer an der Unfähigkeit von Personen, an Inkompetenz und falscher Organisation. Wir können das alles immer besser. Theoretisch jedenfalls.
Das beschädigt nicht nur diejenigen, die für uns stellvertretend Verantwortung übernehmen und nimmt ihnen die Motivation und Kraft, es unterhöhlt am Ende auch die Stabilität unserer freiheitlichen, demokratischen Grundordnung. Warum? In jeden Unmut und Protest, sei es auf der Straße oder im Netz, mischen sich mittlerweile Quertreiber ein, die nicht auf eine Verbesserung, sondern auf eine Abschaffung dieses Staates und aller, die sich hinter ihn stellen, aus sind.
Wir gehen in ein Superwahljahr mit einer Europawahl am 9. Juni, für die auch unsere Stimme gebraucht wird. Und in der zweiten Jahreshälfte mit drei Landtagswahlen in ostdeutschen Bundesländern und Präsidentschaftswahlen in den USA, deren Ergebnisse, ob wir wollen oder nicht, kräftig bis ins norddeutsche Flachland durchschlagen werden. Vertrauensentzug aus der Mitte der Gesellschaft gegenüber den Ämtern und Einrichtungen unseres Staates ist ein gefährlicher Nährboden, auf dem sich Dagegen-Parteien, Extremisten und Spalter auch bei uns breit machen können.
Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe. In der Botschaft der Liebe mit ihrem ganzen Spektrum von der Nächstenliebe über die Selbstliebe bis zur Feindesliebe, steckt für mich das beste Bindemittel gegen das Auseinanderfallen der Gesellschaft.
Mit den Worten von Michelle Obama gesprochen: „If they go low, we go high." Übersetzt heiß das: Wenn die anderen unter die Gürtellinie zielen, behalten wir unser Niveau. In einem Interview, das sie bereits im Wahlkampf 2016 als Unterstützerin von Hillary Clinton gegen Donald Trump der New York Times gab, erklärte diese kluge Frau dazu: „Wenn die anderen sich nicht benehmen können, dann antworten wir mit Anstand und Stil."
Mit Anstand und Stil!
- Das bedeutet für mich erstens, in einer aufgeheizten, gereizten Stimmung nicht mit unbedachten Bemerkungen Öl ins Feuer zu gießen, andere verächtlich zu machen, auf Kosten öffentlicher Verantwortungsträger:innen billigen Applaus einzuheimsen. Das gilt auch für unsere politische Debattenkultur. Was wir dort kommunal und im Bund vorgelebt bekommen, ist zur Zeit bei Leibe nicht immer nachahmenswert.
- Das bedeutet für mich zweitens, gut darauf zu achten, dass meine Mitmenschen den Anschluss nicht verlieren. Wie schön, dass wir hier heute beim Neujahrsempfang so viele sind. Doch machen wir uns nichts vor: Noch viel mehr Menschen erreichen wir derzeit nicht. Sie interessieren sich nicht für diese Stadt, und sie denken, diese Stadt interessiert sich nicht für sie. Wir können den Dialog nicht allein dem Oberbürgermeister und den Ratsvertreter:innen in Bürgersprechstunden überlassen. Wir brauchen den Austausch über Sorgen, Nöte und Lösungsideen überall in Hausgemeinschaften, Nachbarschaften, Vereinen und Initiativen, auch am Arbeitsplatz. Wir müssen wieder lernen, einander miteinander zu sprechen statt übereinander, uns zuzuhören, statt uns, auch asozial-medial, anzubrüllen. Statt Meinungen und Positionen brauchen wir Verständigung und Konsens. Wer ernstgenommen wird, ist auch bereit, sich fordern zu lassen und seinen Beitrag zu leisten.
- Das bedeutet für mich schließlich, dass alle Seiten gefordert sind. Politik und Kirche müssen verlorengegangenes Vertrauen durch glaubwürdiges Handeln wieder zurückgewinnen. Und Bürger:innen und Gemeindeglieder müssen ihrerseits bereit sein, solches Vertrauen auch zu schenken. Das bedeutet im Zweifelsfall auch die Bereitschaft, eine zweite Chance einzuräumen. Hören wir also an allen Tagen des vor uns liegenden Jahres bitte nicht auf leidenschaftlich daran zu arbeiten, vertrauenswürdige, empathische Menschen zu sein.
Das alles ist mal wieder ganz viel. Zu viel? Aber ach, ich habe da so ein Gefühl, das werde ich nicht los. Und das sagt mir: Etwas mehr Liebe wagen, das dürfte schon drin sein. Etwas mehr Liebe, sagst Du, dann könnte es tatsächlich ein gutes Jahr werden. Ja, sage ich, mit Gottes Hilfe.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Christian Scheuer, Kreispfarrer